Deutschland

Ermitteln, bespitzeln, bestrafen – Jobcenter agieren wie Staatsanwaltschaften

Ermitteln, bespitzeln, bestrafen – Jobcenter agieren wie Staatsanwaltschaften

Ermitteln, bespitzeln und bestrafen aus einer Hand: Jobcenter in Deutschland haben laut Arbeitsagentur Kompetenzen wie Staatsanwälte. Selbst auf intimste Spitzeleien verzichten die Staatsdiener dabei nicht.

Dass ein Gerichtsvollzieher für eine Familie im Hartz-IV-Bezug beim Jobcenter monatelang vorenthaltene Leistungen pfändet, wie es der Rechtsanwalt Dirk Feiertag vor einigen Tagen in Leipzig erwirkt hatte, ist ein seltenes Resultat juristischer Hartnäckigkeit. Gewöhnlich geht es andersrum: Eine regelrechte Arbeitslosenpolizei kontrolliert und bespitzelt Erwerbslose und aufstockende Sozialleistungsbezieher.

Bis ins Schlafzimmer verfolgt

Eine Mandantin der Bremer rightmart Rechtsanwaltsgesellschaft mbH wird vom Jobcenter Stade (Niedersachsen) dieser Tage bis in heimische Schlafzimmer verfolgt. Die schwangere Hartz-IV-Berechtigte konnte der Behörde den Namen des Kindesvaters nicht nennen. Den wollte das Amt aber zum Unterhalt verpflichten. Es schickte ihr prompt einen Fragebogen.

In dem von der Kanzlei am 19. Oktober veröffentlichten Papier soll die werdende Mutter nun erklären, mit wem sie in der Empfängniszeit Geschlechtsverkehr gehabt habe. Den oder die Männer müsse sie mit Namen und Geburtsdatum nennen, forderte das Jobcenter. Lägen ihr diese Informationen nicht vor, habe sie dies „ausführlich und nachvollziehbar“ zu begründen. Schließlich forderte das Jobcenter sie auf, eine Belehrung zu unterschreiben: Sie sei ausdrücklich darüber informiert worden, dass „ich eine strafbare Handlung begehe, wenn ich den Kindesvater absichtlich verschweige“.

„Wir haben schon einiges erlebt, aber das schlägt dem Fass den Boden aus“, sagte Rechtsanwalt Jan F. Strasmann im Gespräch mit der Autorin. Deshalb habe er recherchiert, ob das wirklich real ist. Nun ist für ihn klar: Das Schreiben ist so absurd wie authentisch. „Das Jobcenter hat hier sämtliche rechtliche und moralische Grundsätze missachtet“, so Strasmann. Der Anwalt werde den Fall weiterverfolgen. Auskunft geben muss seine Mandantin nach seiner Einschätzung nicht, ein ja oder nein auf die Frage, ob sie den Vater kenne, sei gerade noch an der Grenze dessen, was eine Behörde zu interessieren habe.

Das Jobcenter selbst hat Anfragen bislang nicht beantwortet. Eine Pressestelle gibt es dort nicht. Die Arbeitsagentur Stade teilte mit, der Geschäftsführer sei derzeit außer Haus. Dessen Stellvertreter wolle sich noch zu dem Fragebogen und den Methoden des Jobcenters äußern. Für den Anwalt ist klar: Das Jobcenter hat seine Kompetenzen in eklatanter Weise überschritten, um Geld vom Kindesvater einzutreiben.

Harte Strafen gegen Mittellose

Der mittellosen Schwangeren droht nun einiges Ungemach. Befindet das Jobcenter, sie schweige absichtlich, kann sie nicht nur zu einer „Ersatzpflicht bei sozialwidrigem Verhalten“ – früher verfolgten die Nazis Mittellose als „Asoziale“ – herangezogen werden. Das heißt: Das Jobcenter könnte ihr über Jahre einen fiktiven Unterhalt anrechnen, auch wenn sie ihn gar nicht bekommt und so die staatlichen Leistungen minimieren. Darüber hinaus droht der Frau ein hohes Bußgeld von bis zu 5.000 Euro. Um das festzusetzen, haben Jobcenter weitgehend freie Hand: Sie verdächtigen, ermitteln und bestrafen eigenmächtig. In einer seit dem 20. Oktober gültigen Dienstanweisung stellt die Bundesagentur für Arbeit klar: Sachbearbeiter der Hartz-IV-Behörden „besitzen weitgehend dieselben Rechte wie die Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung von Straftaten“. Mit einer Ausnahme: Einsperren darf die Arbeitslosenpolizei (noch) niemanden.

Die Bußgeldparagrafen 63 und 64 im Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) reihen sich ein in einen Wust stringenter Erziehungs- und Bestrafungsregeln, zu dem auch die als „Rechtsfolgen“ deklarierten Sanktionsregeln gehören, wonach Betroffenen bei Verstößen gegen Auflagen das Existenzminimum bis auf null gekürzt werden kann. Bei allem geht es um „sozialwidriges Verhalten“. Das ahnden Jobcenter heute nicht mehr mit Knast und Arbeitslager. Sie nennen es Ordnungswidrigkeit und verhängen Geldbußen.

Dritte sollen denunzieren

Das sogenannte OWi-Verfahren (Ordnungswidrigkeit) kann Hartz-IV-Berechtigte bereits ab einem Alter von 14 Jahren einholen. Auch zu Leistungsbeziehern im tatsächlichen oder vermuteten finanziellen Verhältnis stehende Dritte sind davor nicht gefeit. Das können laut Gesetzestext Arbeitgeber, Vermieter oder vermeintliche oder tatsächliche Partner sein. Auch Verwandte oder Freunde können verfolgt werden, wenn der Verdacht besteht, sie bewahrten für den Betroffenen Wertsachen oder Vermögen auf. Sie alle müssen sich nur einen Fehltritt leisten, etwa eine vom Amt verlangte Auskunft verweigern, bzw. nicht vollständig oder nicht rechtzeitig mitteilen.

Die Bundesagentur für Arbeit weist in ihren 75 Seiten umfassenden Fachlichen Hinweisen die Sachbearbeiter der Arbeitsvermittlung oder Leistungsabteilung der Jobcenter an, selbständig Verdachtsfällen auf den Grund zu gehen. Haben sie genügend Material zusammengetragen, sollen sie die Akten an die hausinterne OWi-Abteilung weiterreichen. Diese können dann wiederum im eigenen Ermessen ein Ordnungsgeld festsetzen, ähnlich wie Stadt- oder Kreisbehörden es mit Falschparkern oder Rasern tun. Dabei spielt es laut Gesetzestext keine Rolle, ob die Betreffenden „vorsätzlich oder fahrlässig“ gehandelt haben.

In einer weiteren Dienstanweisung vom 1. August, die 48 Seiten umfasst, beschreibt die Agentur: Fahrlässig sei es zum Beispiel, wenn „der 19-jährige(n) Tochter eines erwerbsfähigen Leistungsberechtigten vorgeworfen (wird), eine Nebentätigkeit nicht mitgeteilt zu haben.“ Sie behaupte darauf „unwiderleglich, nicht gewusst zu haben, dass sie mitteilungspflichtig ist“. Der Vater habe bisher die Angelegenheiten geregelt. Dieser Tatbestandsirrtum könne als fahrlässiges Handeln mit einem Bußgeld geahndet werden.

Doch damit nicht genug: Selbst wenn am Ende herauskommen sollte, dass ein OWi-Verfahren unbegründet eingeleitet wurde, bekommen Ex-Verfolgte nicht automatisch damit verbundene Kosten ersetzt. Selbst Leistungsbezieher, die schon aufgrund ihres Status bedürftig sind, müssen die Kostenübernahme auf gut Glück beantragen. Und wieder entscheidet die Behörde nach eigenem Ermessen, ob sie private Auslagen der Leistungsberechtigten für das eigene fehlerhafte Amtsverfahren erstattet. Das heißt schlussendlich: Verdächtigen kann das Jobcenter jeden. Ob „schuldig“ oder nicht, blechen wird er sehr wahrscheinlich dafür selbst.

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