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Ist die Türkei als (NATO)-Partner noch tragbar?

Ist die Türkei als (NATO)-Partner noch tragbar?

Warum gibt es die NATO überhaupt? Das fragt Peter Haisenko als Erstes und betritt das historische Feld nicht nur seit der Gründung der NATO 1949, sondern er beleuchtet Entwicklungen, die vorausgingen, samt Ängsten und Absichten im Umfeld bis heute.

Von Peter Haisenko

Die Antwort vorneweg ist ein klares NEIN! Die Türkei ist als NATO-Partner inakzeptabel. Das Verhältnis der türkischen Regierung zur EU und speziell zu Deutschland ist massiv gestört. Pressefreiheit? Deren Nicht-Einhaltung ist nur sanktionswürdig, wenn es um Russland geht. Die massenweise Ermordung von Kurden und die Zerstörung ihrer Wohnstätten – dito. Dass die Türkei dennoch nach wie vor NATO-Partner ist, macht deutlich, dass die NATO keinesfalls eine „Wertegemeinschaft“ ist – und schon gar nicht „westliche Werte“ verteidigt.

Warum gibt es die NATO überhaupt? Von Sommer 1945 bis 28. August 1949 waren die USA als einziges Land im Besitz der Atombombe. Bis dahin war die vom Zweiten Weltkrieg ausgeblutete Sowjetunion nicht in der Lage, der einzigen Atommacht USA ernsthaft Paroli zu bieten. Doch Anfang 1949 hatten die US-Geheimdienste Gewissheit, dass die Sowjetunion in Kürze über eigene Atomwaffen verfügen würde. Das war das Ende der absoluten Überlegenheit der USA, die jetzt nach Partnern suchte, um wenigstens ihre konventionelle Überlegenheit zu sichern. Der NATO-Vertrag wurde am 4. April 1949 unterzeichnet und trat am 24. August 1949 in Kraft, vier Tage vor der Zündung der ersten Atombombe der Sowjetunion.

Der „Warschauer Pakt“ war eine Reaktion auf die NATO

Der NATO-Vertrag war der Folgevertrag des sogenannten „Brüsseler Vertrags“ vom 17. März 1948, in dem sich das Vereinigte Königreich, Frankreich, Belgien, die Niederlande und Luxemburg zusammengeschlossen hatten, um einer erneuten deutschen Aggression widerstehen zu können. Welche Gefahr vom besiegten, besetzten, zerstörten und entwaffneten Deutschland ausgehen sollte, war damals genauso wenig erklärbar, wie das Märchen vom „aggressiven Russland“ heute. Die NATO heißt in Langschrift „North Atlantic Treaty Organization“ und beschreibt so die Verbindung mit den neu hinzu gekommenen USA über den Atlantik. Weitere Gründungsmitglieder waren Kanada, Italien, Norwegen, Dänemark mit Grönland, Island und Portugal. Die Stoßrichtung der NATO war jetzt die Sowjetunion, nicht mehr primär Deutschland, für das aber zu dieser Zeit noch kein Schutz vorgesehen war.

Am 18. Februar 1952 wurden Griechenland und die Türkei in die NATO aufgenommen. Da diese Mittelmeerstaaten, ebenso wie Italien nichts mit dem Nordatlantik zu tun haben, wird deutlich, dass bereits damals der Name und das Ursprungsziel „Verteidigung“ der NATO zweifelhaft waren. Wie die Grafik rechts zeigt, diente die Aufnahme dieser zwei Staaten der Einkreisung der Sowjetunion im Süden. Am 9. Mai 1955 wurde der Beitritt der BRD zur NATO in Paris feierlich vollzogen. Wenige Tage später erlangte Österreich seine Souveränität wieder und verkündete bei der Gelegenheit ewige Neutralität. Als Gegengewicht zum Beitritt der BRD zur NATO wurde am 14. Mai 1955 der „Warschauer Pakt“ gegründet. Es war folglich bereits damals so, dass die „aggressive Sowjetunion“ den Warschauer Pakt gegründet hat als Reaktion auf die „friedliche“ Ausbreitung der NATO und die Einkreisung durch dieselbe.

Die „Kuba-Krise“ nahm ihren Anfang in der Türkei

Bis 1957 war die Insel zwischen Nordatlantik und Pazifik, die USA, sicher vor atomaren und eigentlich allen Angriffen, denn die Atombomben konnten nur von Flugzeugen ins Ziel gebracht werden oder auf kurze Distanz. Umso größer war der Schock für die USA, als die Sowjetunion am 4. Oktober 1957 mit dem ersten Satellit „Sputnik“ die Fähigkeit demonstrierte, Interkontinentalraketen zu bauen, die Atomsprengköpfe direkt in die USA tragen konnten. Damit war der neue Zustand geschaffen, dass kriegerische Aggressionen der USA beantwortet werden konnten, mit direkten und tödlich zerstörerischen Gegenschlägen auf das Mutterland. Bis dahin hatten die USA das Monopol auf die Androhung nuklearer Schläge, die am 16. März 1955 von US-Präsident Dwight D. Eisenhower für den Kriegsfall den Einsatz taktischer Nuklearwaffen gegen militärische Ziele offiziell als Taktik beschlossen worden waren.

Am 1. Februar 1958 konnten die USA ihren ersten Erdtrabanten ins All schießen, den „Explorer 1“. Dieser war aber dem Sputnik deutlich unterlegen. Er hatte nur eine Masse von 13,9 Kilogramm – Sputnik 83,6 – und auch seine extrem unrunde Umlaufbahn – Erdentfernung zwischen 358 Km und 2550 Km – deutet darauf hin, dass die USA hier technologisch der Sowjetunion unterlegen waren. Im Bereich der Mittelstreckenraketen sah es für die USA etwas besser aus und hier kommen jetzt die Türkei und die Kubakrise ins Spiel. Letztere wurde ausgelöst, weil die USA atombestückte Mittelstreckenraketen in der Türkei stationiert hatten.

Geostrategische Überlegungen sind wichtiger als „westliche Werte“

Wiederum war die Drohung der Sowjetunion, Atomraketen auf Kuba zu stationieren, nur eine Reaktion auf die Bedrohung der NATO/USA mit den Raketen in der Türkei. Man vergleiche hier den „Raketenabwehrschirm“ in den osteuropäischen Staaten der letzten Jahre. Wenig bekannt ist, dass das Ende der Kubakrise erst möglich war, nachdem Kennedy seine Raketen aus der Türkei abgezogen hat. Auch hieran ist erkennbar, dass es bis heute eine eklatante Verdrehung von Tatsachen ist, wenn behauptet wird, man müsse Stärke zeigen gegenüber Russland. Im Gegenteil ist es so, dass die USA nur dann ihre aggressive Haltung zurücknehmen, wenn sie auf massiven Widerstand stoßen, der sie selbst in Gefahr bringen könnte. Man vergleiche hier den Ablauf der Ereignisse in Syrien.

Die NATO-Mitgliedschaft der Türkei hatte von Anfang an den Zweck, die Sowjetunion auch von Süden in die Zange zu nehmen. Daran hat sich nichts geändert. Dass die Türkei dabei immer innerhalb der NATO eine zweifelhafte Rolle gespielt hat, wird nicht nur sichtbar an den Reibereien mit dem NATO-Land Griechenland. Gerade in den letzten Jahren ist das Verhalten der Türkei als NATO-Partner mehr und mehr zu kritisieren. Nicht nur dass sie Besuche von Abgeordneten bei den deutschen Soldaten in Incirlik nicht zulässt, widerspricht auch ihr Verhalten im Syrienkonflikt und gegenüber der eigenen kurdischen Bevölkerung jedem Grundsatz, zu dem sich NATO-Länder angeblich verpflichtet fühlen sollten. Allein die offensichtliche und nachgewiesene Unterstützung des IS sollte eigentlich schon ausreichen, die Türkei aus dem Kreis der NATO-Länder zu verweisen.

Warum also billigt die NATO das Verhalten der Türkei, ohne massiv auf die Einhaltung der Grundsätze der NATO zu dringen? Da bin ich wieder ganz am Anfang der Betrachtung: Geostrategische Überlegungen, die offensichtlich über Menschenrechten und „westlichen Werten“ stehen. Der eigentlich überfällige Ausschluss der Türkei aus der NATO würde deren Südflanke öffnen und den Einfluss Russlands im Nahen und Mittleren Osten freigeben. Die Kontrolle über das Öl dort wäre verloren.

Kann man glaubhaft appellieren, wenn man selber Dreck am Stecken hat?

Das deutsch-türkische Verhältnis ist auf einem historischen Tiefstand. Die Verbalinjurien, die hier von Ankara in Richtung Berlin geschickt werden, wären noch vor hundert Jahren ein hinreichender Grund gewesen, den Krieg zu erklären und Kanonenboote zu entsenden. Was aber geschieht? Nicht einmal die Beitrittsverhandlungen zur EU werden offiziell aufgekündigt. Längst überfällige Sanktionen wegen der Massenmorde an Kurden werden gar nicht andiskutiert. Die Verstöße gegen das Völkerrecht, nämlich den Einsatz von Militär im Nachbarland Syrien, werden behandelt, als ob es sie nicht gäbe. Aber vielleicht liegt genau hierin der Grund, warum man die Türkei einfach gewähren lässt: Die NATO und deren Führungsnation USA scheren sich selbst fortlaufend einen Dreck um das Völkerrecht, nicht nur bei ihrem Treiben in Syrien. Wie soll man da noch glaubwürdig an die Türkei appellieren?

Abgesehen von den Einsätzen in Jugoslawien unter Schröder/Fischer hat sich Deutschland im Hinblick auf das Völkerrecht einigermaßen „sauber“ gehalten. Seit dem 19. März 2017 ist das anders. Die Tornado-Jets der Luftwaffe haben die Zielfotos geliefert, aufgrund derer die „US-geführte Koalition“ eine Schule im syrischen al-Mansoura bombardiert und mindestens 33 Zivilisten, Frauen und Kinder getötet hat. Die Meldung darüber ist an sich wieder ein Beweis dafür, wie immer noch Zuordnungen verschleiert werden, obwohl Donald Trump ja nun verantwortlich ist: Wer war es denn nun? Welcher der beteiligten Partner der „Koalition“ ist verantwortlich? Wie in der Politik versteckt man sich hinter Koalitionen, aber das ist nur ein Nebensatz. Fakt ist, dass jetzt ganz klar Deutschland zumindest eine Mitverantwortung tragen muss. Irgendeine Betroffenheitsbekundung oder gar Entschuldigung an Assad in Damaskus? Braucht es nicht, wir sind ja die Guten.

Wie zur Gründung 1949 hat die NATO nach wie vor das Ziel, „Deutschland klein und Russland raus zu halten“. Die NATO ist das Instrument des Militärisch-Industriellen-Komplex´ mit dem Ziel, den Zorn über ihre Aktionen breiter zu verteilen und so die USA von „Alleinschuld“ zu entlasten. Wollte die NATO auch nur einen kleinen Rest ihrer beschädigten Glaubwürdigkeit erhalten, müsste sie sofort ein Ausschlussverfahren gegen die Türkei einleiten. Aber, wie gesagt, wie sollen das die anderen Mitglieder – vorneweg die USA – glaubhaft begründen, wenn sie selbst andauernd gegen Völker-, Kriegs- Menschenrecht verstoßen?

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