Hintergründe

Corona-Lockdown fördert psychische Erkrankungen und steigert Selbstmordraten

Corona-Lockdown fördert psychische Erkrankungen und steigert Selbstmordraten
Der Corona-Lockdown fordert viele Opfer...

Eine neue Umfrage des US-amerikanischen Center for Disease Control zeigt einen hohen Anteil von konkreten Suizidgedanken besonders bei der jungen Generation während des Corona-Lockdowns auf. Ebenso weisen Befragungen in mehreren Ländern darauf hin, dass Angststörungen und Depressionsneigungen in der Bevölkerung im Vergleich zum Vorjahr deutlich zugenommen haben. Noch immer betrachten sich die Verantwortlichen jedoch als Schützer der Volksgesundheit.

von Andreas Heyer

In den USA führte das zum Center for Disease Control (CDC) dazugehörige National Center for Health Statistics (NCHS) zusammen mit dem US-Statistikamt ab 23. April 2020 für 90 Tage Befragungen zur Erfassung der psychischen „Folgen der Coronavirus-Pandemie“ in der US-Bevölkerung durch. Das NCHS ermittelte in ihren repräsentativen Befragungen eine Verdreifachung des Auftretens ängstlicher und depressiver Symptome im Vergleich zum Vorjahr.

Während für das 2. Quartal 2019 in den regelmäßigen Haushaltsbefragungen der Behörde ein Auftreten von 11 Prozent ängstlicher und depressiver Symptome in der Bevölkerung ermittelt wurden, traten diese im 2. Quartal 2020 in der vergleichbaren Befragung bei circa 35 Prozent der Teilnehmer auf. Mit einem Anteil von circa 50 Prozent war die Häufung der Symptome besonders bei der jungen Bevölkerung zwischen 18 und 29 Jahren stark ausgeprägt.

In einer weiteren Untersuchung des CDC im Rahmen der „Morbidity and Mortality Weekly Reports“ wurde vom 24. bis 30. Juni 2020 eine repräsentative Befragung von 5.412 erwachsenen US-Bürgern zur psychischen Gesundheit während der Maßnahmen zur Covid-19-Bekämpfung durchgeführt. Während 31 Prozent der Befragten angaben, ängstliche oder depressive Symptome zu erleben, gaben 11 Prozent der Befragten an, in den vergangenen 30 Tagen ernsthaft einen Suizid erwogen zu haben. Mit 26 Prozent war insbesondere bei 18- bis 24-Jährigen der Anteil mit ernsthaften Suizidgedanken hoch.

Eine weitere, besonders von psychischen Symptomen betroffene Gruppe umfasste das Viertel der Stichprobe, das unentgeltlich hilfsbedürftige Menschen — zum Beispiel Angehörige oder Freunde — pflegte: 56 Prozent berichteten über ängstliche oder depressive Symptome und 31 Prozent von ernsthaften Suizidgedanken.

Von den Befragten gaben 13 Prozent an, den Missbrauch von Alkohol oder sonstigen Drogen zur Bewältigung des „pandemiebedingten“ Stresses begonnen oder erhöht zu haben. Bei den 18- bis 24-Jährigen traf dies bei 25 Prozent der Befragten zu, bei den Pflegenden sogar bei 33 Prozent. Dazu ergab die Analyse eines Labors für Drogentests von 500.000 Urinproben eine Zunahme positiver Testergebnisse ab Mitte März 2020 auf das nicht ärztlich-verschriebene Schmerzmittel Fentanyl, auf Kokain und Metamphetamine.

Hinweise aus anderen Ländern

Ebenso führt das Britische Statistikamt ONS seit 2011 regelmäßige Befragungen zum psychischen Befinden der Bevölkerung durch. Während vor den Lockdown-Maßnahmen 30 Prozent der Befragten angaben, eine starke Ausprägung von Ängstlichkeit zu erleben, stieg der Wert zu Beginn des Lockdowns Anfang April auf 50 Prozent an.

Erstmals seit Beginn der Untersuchungen habe die Behörde signifikant schlechtere Werte bei Angaben zu Lebenszufriedenheit, Glück und Ängstlichkeit gleichzeitig festgestellt. Insbesondere sei eine Korrelation von ängstlicher Ausprägung und Einsamkeit festzustellen gewesen. Gleichzeitig wurden 10.000 zusätzliche Todesfälle von Demenzkranken im April 2020 in England und Wales vom britischen Statistikamt registriert. Da diese zusätzlichen Todesfälle nicht durch Covid-19-Erkrankungen erklärt werden konnten, werde dies auf den sinkenden Lebensmut der Patienten angesichts der deutlich reduzierten sozialen Kontakte zurückgeführt.

Befragungen des australischen Statistikbüros während der Zeit des Corona-Lockdowns von Mitte März bis Mitte April 2020 ergaben in einer Haushaltsbefragung ebenfalls eine Zunahme psychischer Symptome in der Bevölkerung. Während bei einer Befragung im Jahr 2017/2018 erst 24 Prozent der Befragten Symptome von Unruhe oder Rastlosigkeit angaben, waren es während der Phase des Lockdowns 40 Prozent. 9 Prozent der Befragten gaben in dem Zeitraum an, so depressiv zu sein, dass sie nichts mehr aufheitern könne.

In Indien stellte die Indian Psychiatric Association eine Zunahme psychischer Erkrankungen um 20 Prozent während des Lockdowns fest. Eine deutliche Zunahme ermittelte ebenso die Suicide Prevention India Foundation in ihrer Studie Covid-19-Blues. In einer Befragung von 159 Psychotherapeuten wurde eine erhöhte Suizidalität bei jungen Patienten wahrgenommen.

In der im April/Mai 2020 durchgeführten Studie gaben 30 Prozent der Therapeuten an, eine Zunahme von Selbstverletzungen und Suizidalität bei Patienten festzustellen. Dies werde auf Jobverlust, finanzielle Unsicherheit, Isolation und Einsamkeit durch den Lockdown zurückgeführt.

Unzureichendes Monitoring in Deutschland

In Deutschland ist für das nationale Gesundheitsmonitoring das Robert Koch-Institut zuständig. Aktuelle repräsentative und regelmäßige Erhebungen zum Auftreten psychischer Symptomatik in der Bevölkerung sind nicht ersichtlich. Ein Projekt zur Einführung eines „Nationale Mental Health Surveillance“ soll erst Ende 2021 abgeschlossen werden. Deshalb kann in Deutschland für Hinweise auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung während der Lockdown-Maßnahmen aktuell nicht auf Daten von staatlichen Stellen zurückgegriffen werden.

Aktuelle Studien von Universitäten in Deutschland scheinen die Tendenz der CDC-Studien aus den USA zu Risikogruppen in der Bevölkerung zu bestätigen. Die Copsy-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf führte im Mai/Juni 2020 eine Online-Befragung von 1.000 Kindern und Jugendlichen sowie 1.500 Eltern durch. Das Risiko psychischer Auffälligkeiten sei von 18 Prozent in vorherigen Befragungen auf 31 Prozent in der Krise gestiegen. Während vorher ein Drittel der Kinder ein geringes psychisches Wohlbefinden angegeben hätte, seien es in der Krise zwei Drittel gewesen.

In einer Kooperation der Uni Gießen und der Medical School Hamburg wurde im März/April 2020 in einer nicht-repräsentativen Umfrage eine Stichprobe von 949 Personen zur psychischen Gesundheit während des Lockdowns durchgeführt. Die Stichprobe bestand zu 63 Prozent aus Studenten, wies ein Durchschnittsalter von 29 Jahren auf und war zu 80 Prozent weiblich. Bei 35 Prozent der Studienteilnehmer wurden Symptome einer klinischen Depression ermittelt, bei 21 Prozent Symptome einer Zwangsstörung, bei 17 Prozent erhöhte Krankheitsängste sowie bei 12 Prozent Symptomen einer generalisierten Angststörung.

Die Autoren weisen auf das stark erhöhte Auftreten psychischer Erkrankungen im Vergleich zu der allgemeinen Prävalenz psychischer Erkrankungen und zugleich aber auch auf Verzerrungen durch die fehlende Repräsentativität hin. Dennoch kann die Studie Hinweise auf die Auswirkungen des fehlenden Präsenzlernens in Gruppen und der damit einhergehenden Zunahme sozialer Isolation bei Studenten geben.

Eine repräsentative Befragung der Uni Leipzig von 1.005 Senioren im April 2020 hat hingegen ergeben, dass in dieser Bevölkerungsgruppe keine Zunahme psychischer Symptomatik im Vergleich zu Vorjahren messbar gewesen sei.

Die Kaufmännische Krankenkasse KKH in Hannover veröffentlichte eine Analyse von Krankschreibungen, nach der es im ersten Halbjahr 2020 eine Zunahme von Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen um 80 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gegeben hat. Während im 1. Halbjahr 2019 14.600 Krankmeldungen durch psychische Erkrankungen gemeldet worden seien, wären dies im 1. Halbjahr 2020 bereits 26.700 Fälle gewesen.

Entwicklung der Suizidrate im Lockdown

Bislang sind keine abschließenden Daten zu Suizidraten im 2. Quartal 2020 auf nationaler Ebene bekannt. Hinweise aus einzelnen Regionen und kurzen Zeiträumen geben gemischte Hinweise.

Im indischen Bundesstaat Kerala hätten sich innerhalb von 100 Tagen des Lockdowns alleine 66 Kinder das Leben genommen. Als Gründe wurden genannt, sich nicht die technischen Geräte leisten zu können, um am Online-Unterricht der Schule teilnehmen zu können, allgemeiner Stress und Einsamkeit.

Auch gab es mehrere Suizide Erwachsener in Corona-Quarantäne. Aus den USA wird eine Zunahme von Suiziden in einer kalifornischen Klinik berichtet, die in einem Monat mehr Suizide als sonst in einem Jahr verzeichnet habe. In Berlin wurde eine signifikante Zunahme von Suiziden durch ein Bestattungsinstitut gemeldet.

Hingegen ermittelte eine Auswertung aller Einsatzcodes der Berliner Rettungsstellen zu selbstverletzendem Verhalten von Correctiv eine Abnahme von Einsätzen bis Ende April 2020 im Vergleich zum Vorjahr. Bei einigen Suizidarten sei hingegen eine deutliche Zunahme festgestellt worden. Eine Abfrage zu Suiziden der Augsburger Allgemeinen in mehreren Bundesländern hat ergeben, dass bis Ende April keine Zunahme der Suizidrate festzustellen gewesen sei.

Als gesichert darf die Annahme steigender Suizidraten bei steigender Arbeitslosigkeit gelten. Eine kanadische Studie ermittelte eine Korrelation zwischen Arbeitslosenquote und Suizidrate zwischen den Jahren 2000 und 2018. Darauf aufbauend wurden Szenarien der erwarteten zusätzlichen Suizide aufgrund der gestiegenen Arbeitslosenquote in Kanada berechnet, die je nach Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt eine Zunahme der Suizidrate erwarten lasse. Bei einer mittleren Zunahme der Arbeitslosigkeit sei mit einem Anstieg der Suizidrate um 6 Prozent zu rechnen, bei einer starken Zunahme der Arbeitslosigkeit um 27 Prozent.

Eine ähnliche Studie für die USA prognostiziert einen Anstieg der Suizidrate von 3 bis 8 Prozent. In mehreren US-amerikanischen Studien wird die Rolle von Isolation und Einsamkeitsgefühlen für suizidale Motive erörtert. Berichtet wird, dass während und nach der SARS-Epidemie in Hongkong 2003 und der Nuklearkatastrophe in Fukushima ebenfalls die Suizidrate signifikant in der jeweiligen Bevölkerung gestiegen sei.

Eine abschließende Beurteilung der Auswirkungen der Lockdown-Maßnahmen auf Suizide und Suizidversuche wird erst nach Veröffentlichung der nationalen Daten einzelner Ländern möglich sein. Offizielle Auswertungen sind oftmals erst mit langem zeitlichen Nachlauf erhältlich.

Risikogruppen psychischer Erkrankungen

Die Studien weisen auf eine starke psychische Belastung der Bevölkerung in der Zeit des Lockdowns hin. Die Studie des CDC zeigt eine deutliche Zunahme von psychischen Symptomen und Suizidgedanken auf.

Die junge Generation ist demnach besonders betroffen ebenso wie Menschen, die sich unentgeltlich um andere kümmern. Beide Gruppen dürften besonders von den sozial isolierenden Nebenwirkungen der Lockdown-Maßnahmen beeinträchtigt sein.

Social Distancing mag aus virologischer Perspektive ein guter Beitrag gegen das Ausbreiten von Infektionskrankheiten sein. Aus psychologischer Perspektive hingegen gehört die soziale Isolierung zu den stärksten Risikofaktoren für psychische Erkrankungen. In Zukunft muss zwischen den Perspektiven besser abgewogen werden, um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. An dieser Stelle sei auf die Definition von Gesundheit in der Satzung der Weltgesundheitsorganisation WHO hingewiesen:

„Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“

Da psychische Belastung und hoher Stress häufig entweder nach innen gerichtet zu psychischen Erkrankungen oder nach außen gerichtet zu aggressiv-impulsiven Ausbrüchen führen können, sollten dringend die psychischen Belastungen der jungen Generation reduziert und deren soziale Ressourcen gestärkt werden. Mit gleichem Nachdruck, mit dem der Schutz der Risikogruppen von Infektionskrankheiten in den vergangenen Monaten vorangetrieben wurde, sollte der Schutz der Risikogruppen psychischer Erkrankungen und Suizidalität fokussiert werden.

Um die Auswirkungen politischer Entscheidungen und gesellschaftlicher Krisen auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung beurteilen zu können, muss in Deutschland zeitnah ein kontinuierliches, repräsentatives Gesundheitsmonitoring diesbezüglich aufgebaut werden. Hier können die methodisch gut gemachten Erhebungen des US-amerikanischen CDC ein Vorbild sein.

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